Gehirn-Gesundheit, Lebensstil,  Spiritualität

Gehirn-Gesundheit und Spiritualität

 Spiritualität und Gesundheit

Spiritualität ist der weit gefasste Begriff des Glaubens an etwas jenseits des Selbst. Es kann religiöse Traditionen beinhalten, die sich auf den Glauben an eine höhere Macht konzentrieren, aber es kann auch einen ganzheitlichen Glauben an eine individuelle Verbindung zu anderen und zur Welt als Ganzes beinhalten. Es gibt viele verschiedene Arten von Spiritualität, die von religiösen Traditionen bis hin zu eher säkularen Ansätzen reichen.

Die Forschung zeigt, dass die Spiritualität positiven Einfluss auf die körperliche und geistige Gesundheit hat:

  • bessere Gesundheit
  • größeres psychologisches Wohlbefinden
  • weniger Depressionen
  • weniger Bluthochdruck
  • weniger Stress, auch in schwierigen Zeiten
  • mehr positive Gefühle

Spiritualität hat mit Lebenssinn zu tun. Dieser Lebenssinn kann in der Ausübung einer traditionellen Religion oder in einer sinn-erfüllenden Spiritulität bestehen. Alzheimer ist viel weniger häufig  in den sogenannten blauen Zonen (Okinawa, Ikaria, Mittel-Sardinien). Dort lebt der Mensch in einem sinn-erfüllenden sozialen Umfeld, eingebetet in seiner spirituellen Tradition. Die Forschung zeigt, dass Leute in unserer Gesellschaft, die einen erfüllenden Lebenssinn haben, weniger häufig an Alzheimer erkranken.

Die spirituelle Praxis als Teil der Präventionsmassnahmen gegen neurodegenerative Krankheiten

Spirituelle Praxis kann  Teil der verschiedenen Lebensstil-Massnahmen für die Prävention von Alzheimer, Parkinson und MS, aber ist hilfreich auch für bereits erkrankte Personen. Sie vermindert den Stress und sorgt für besseren Schlaf: beides Risiken für die Entstehung der neurodegenrativen Krankheiten. Andererseits bewirkt sie eine positive emotionelle Stabilisierung und Möbilisierung der Ressourcen der Betroffenen.

Die präventive Wirkung der Meditation ist auf ihre verschiedene Auswirkungen auf die Gehirnfunktionen zurückzuführen.

Neurotheologie: Einfluss der spirituellen Praxis auf die Gehirnaktivität

Das Gebiet der Neurotheologie hat zum Verständnis beigetragen, wie verschiedene spirituelle Praktiken, wie Meditation und Gebet, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Gehirns beeinflussen können. Zum Beispiel führt eine Praxis wie Meditation oder Gebet zu einer Steigerung der Gehirnaktivität. Ein Bereich, der sich bei diesen Praktiken "einschaltet", ist der Frontallappen, der bei der Regulierung emotionaler Reaktionen hilft. Der Frontallappen hilft, die Aktivität in den emotional reaktiven Bereichen des limbischen Systems des Gehirns, insbesondere der Amygdala, zu beruhigen.

Die Ausübung einer Praxis wie Meditation oder Gebet über lange Zeiträume hinweg bewirkt, dass der Frontallappen aktiver wird, und hilft, emotionale Reaktionen besser auszugleichen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass diese Bahnen im Gehirn umso stärker werden, je mehr man diese Praktiken ausübt.

Der Neurotheologe Dr. Andrew Newberg weist darauf hin, dass die meisten Meditations- und Achtsamkeitsprogramme drei miteinander verbundene Komponenten haben: Absicht, Entspannung und Bewusstsein. In seinem Buch  Wie Religion und spirituelle Praxis unser Gehirn verädert hebt Dr. Newberg die Rolle jeder dieser Komponenten hervor:

Absicht

Die Absicht bezieht sich auf das, worauf Sie sich in Ihrem Leben wirklich konzentrieren wollen; das Ziel kann alles sein, was Sie wollen: Geld, Macht, Frieden, Romantik oder eine engere Verbindung zu Gott. Alles, was Sie tun, hat eine zugrunde liegende Absicht, ob Sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Bevor Sie sich auf eine bestimmte Praxis einlassen, sollten Sie zunächst klären, was Ihre Absicht ist. Wenn Sie Ihre Absicht oder Ihr Ziel klar artikulieren, können Ihre Frontallappen Ihren motorischen Kortex effizienter anweisen, Ihren Wunsch zu erfüllen, während Sie sich aktiv mit  Ihrer Unwelt auseinandersetzen.  

Entspannung

Es ist nicht überraschend, dass die meisten Meditationstechniken mit der Absicht beginnen, den Körper bewusst zu entspannen. Meistens geht es dabei um die Konzentration auf den Atem, aber auch das Gähnen ist ein sehr schneller Weg, um eine tiefe Entspannung und Wachheit zu erreichen.

Die Achtsamkeit des Atems erfüllt eine weitere Funktion, denn sie schult den Geist, sich auf einen natürlichen - und essentiellen - Körperprozess zu konzentrieren. Indem Sie Ihre bewusste Konzentration auf Ihren Atem richten, beginnen Sie, die geistige "Geschäftigkeit" zu verlangsamen.  Ihre Gedanken werden weniger und Ihr Körper beginnt sich zu entspannen. 

Bewusstsein

Sobald ein tiefer Zustand der Entspannung erreicht ist, besteht der nächste Schritt darin, sich seines Körpers in Bezug auf die Welt bewusst zu werden. Bei einigen Praktiken werden Sie zum Beispiel gebeten, eine einfache Aktivität wie Essen oder Gehen zu beobachten. Gewöhnlich tun Sie dies in Zeitlupe und achten dabei auf jede kleinste Bewegung, die Sie machen. Wenn Sie etwas Essen in den Mund nehmen, achten Sie auf jeden Muskel, der beim Kauen beansprucht wird, und achten Sie auf die subtilen Qualitäten von Geruch, Geschmack, Textur und Temperatur jedes Bissens. Sie werden auf jeden Muskel achten, der benötigt wird, um die Gabel zum Mund zu heben. Jede dieser Aktionen steigert sowohl die Qualität der Erfahrung als auch erinnert Sie daran, dass in allem, was wir tun, viel "Erfahrung" steckt.

Freisetzung von chemischen Helfern

Ihr Gehirn setzt auf natürliche Weise wichtige Neurotransmitter (Gehirnstoffe) frei, die das Gleichgewicht der lebenswichtigen Hormone regulieren helfen. Sie beeinflussen Systeme im gesamten Geist und Körper. Studien zeigen, dass die Ausübung der Meditation einen direkten Einfluss auf das Niveau dieser wichtigen Neurotransmitter haben kann, die im Gehirn produziert werden. Achtsamkeit hat einen messbaren Einfluss auf diese Gehirnstoffe:

  • Serotonin erhöht die "Wohlfühl"-Stoffe, die ihre Stimmung regulieren.
  • Cortisol: senkt dieses Stresshormon
  • DHEA: steigert den Spiegel dieses Langlebigkeitshormons
  • GABA (Gamma-Aminobuttersäure) - verbessert die beruhigende Wirkung dieses wichtigen hemmenden Botenstoffs in Ihrem Zentral-Nervensystem (ZNS)
  • Endorphine - erhöht das "natürliche Hoch" dieses Neurotransmitters für das allgemeine Glück
  • Wachstumshormon - erhöht die Werte der jugendbewahrenden Stoffen, die natürlich mit dem Alter abnimmen
  • Melatonin - das "Schlafhormon", das für erholsamen Schlaf verantwortlich ist, das bei der Stimmungsregulierung hilft

Wie Achtsamkeitsmeditation das Gehirn beeinflusst und verändert

Eine Studie ergab, dass 8 einzigartige Hirnregionen bei denjenigen, die in der Meditation erfahren waren, durchgängig verändert waren:

  • Rostrolateraler präfrontaler Kortex
  • Sinnesrinden
  • Insulärer Kortex
  • Hippocampus
  • Vorderer cingulärer Kortex
  • Mittelzirkulärer Kortex
  • Oberer Längsfaszikulus
  • Corpus callosum

Spirituelle Praxis und ihr Einfluss auf dem Gehirn

MBSR

Am besten erforscht ist die buddhistische Achtsamkeitsmeditation. Diese Methode wurde von Jon Kabat Zinn in eine spezielle Methode weiterentwickelt: MBSR Mindfulness Based Stress Reduction, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion

Die  Arbeiten von Jon Kabat Zinn und anderen Forschern bestätigen, dass die Praxis der MBSR in einer Vielzahl unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen Stress, Ängste und Depression reduziert. Damit ist eine Zunahme der Neurogenese (Neubildung von Hirnzellen) verbunden.

Damit Neurogenese geschehen kann, brauchen die heranwachsenden Neuronen zusätzliche Blutversorgung zur Bereitstellung der erforderlichen Nährstoffe. Eine weitere indirekte Möglichkeit, ihr Vorhandensein nachzuweisen, ist also, sich den Blutzufluss ins Gehirn und insbesondere den Hippocampus anzuschauen. Mithilfe von Neuroimaging-Verfahren kann man sehen, dass der Hypocampus nach Übungen in Achtsamkeit stärker durchblutet ist, das auf eine Zunahme der Neurogenese zurückzuführen ist. MBSR steigert auch die Leistung des Arbeitsgedächnises und die kognitive Flexibilität. Damit diese Veränderungen erhalten bleiben muss die MBSR Praxis fortgesetzt werden.

Meditation der Hingabe, Mitgefühl und Liebe

Eine in der christlichen, muslimischen und vedischen Tradition häufig anzutreffende Praxis sieht vor, ein Objekt der Liebe oder Hingabe – etwa Gott, Jesus, Allah, Krishna oder die göttliche Mutter – zu wählen und darauf Gefühle von Liebe, Andacht, Bhakti, Hingabe, Bewunderung, Wertschätzung und Verehrung zu projizieren.

Eine andere Variante sieht vor, sich mit einem bestimmten Gefühl – Liebe, Andacht, Hingabe oder Sehnsucht nach dem Göttlichen – auf das Herz zu konzentrieren und alle anderen Gefühle und Gedanken nicht zu beachten. Bei einer weiteren umfassend untersuchten Praxis aus der buddhistischen Tradition, die Metta (liebende Güte) Meditation, beginnt der Meditierende bei sich selbst und dehnt sein Mitgefühl und seine liebevolle Güte zunächst auf Freunde und Familienmitglieder aus; dann auf andere, denen Leid widerfährt oder dann eventuell auch  auf den Personen, denen gegenüber er negative Gefühle empfindet; und schließlich auf die ganze Welt.

Auch Übungen in Hingabe und Mitgefühl bringen den Hippocampus zum Wachsen, verstärken die Durchblutungsrate, erzeugen positivere Gefühle und Empathie und reduzieren Stress, Ängste und Depressionen. All diese Wirkungen sind auch zu erwarten, wenn Neurogenese stattfindet, und dass sie eintreten, haben Studien hinlänglich bestätigt. Ziehen wir außerdem die hormonellen Neurogenese-Stimulatoren in Betracht, ist die Beweislage, die für eine Anregung der Neurogenese durch Übungen in Hingabe spricht, sogar noch überzeugender als im Hinblick auf die Achtsamkeitspraktiken.

»Möge ich glücklich sein.

Möge ich frei von Leid sein.

Möge ich Freude und Leichtigkeit des Seins empfinden.«

Diese Sätze spricht man zunächst für die eigene Person, dann für Freunde und Familie und am Schluss, falls möglich, für Leute, denen gegenüber man negative Gefühle hegt.

Gefühle der Liebe fördern die Ausschüttung von Oxytocin, das die Neurogenese anregt. Praktiken, die Liebe und liebevolle Gefühle (wie Andacht, Hingabe, Sehnsucht, Bhakti, Bewunderung) verstärken regen also die Bildung neuer Hirnzellen an.

Es ist erwiesen, dass Meditation die Ausschüttung von Melatonin anregt. Auch Melatonin steigert die Neurogenese: ein weiterer Weg zur Neubildung von Neuronen

Größere Aufmerksamkeit und Fokussierung

Die Gedanken aller werden abgelenkt. Ein Neuronennetzwerk im Standardmodus ist mit einer Geisteswanderung verbunden - auch als "Affengeist" bezeichnet. Wissenschaftler haben jedoch herausgefunden, dass Anomalien in diesem Gehirnsystem zu Angstzuständen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen führen können.

Meditation erlaubt es Ihnen, im gegenwärtigen Moment zu sein, einem Zeitrahmen, der mit Glücksgefühlen verbunden ist. Sie kann Ihre Aufmerksamkeitsspanne erhöhen und Gedankenwanderungen und übertriebene selbstreferenzielle Gedanken bekämpfen. Bei übermäßiger Aktivität können diese ungesunden Geisteszustände zu einem Zustand des Unglücklichseins führen.

Achtsamkeit hilft Ihnen, sich zu konzentrieren und die Ablenkungen um Sie herum zu ignorieren. Sie hilft Ihnen auch, Ihre Fähigkeit zu schärfen, in Ihrer Umgebung mehr wahrzunehmen. Dadurch erhalten Sie Zugang zum gegenwärtigen Augenblick mit einer umfassenderen Perspektive Ihrer Erfahrung. Die Steuerung Ihres Affengeistes durch tägliche Meditation ist eine einfache und leichte erste Verteidigungslinie für die endlosen Ablenkungen der heutigen Zeit.

Meditation, Alterung und Gehirn

Die Erhaltung eines gesunden jungen Gehirns kann durch die kraftvolle Praxis der Meditation unterstützt werden. Es wurde gezeigt, dass Meditation den präfrontalen Kortex verdickt. Dieses Gehirnzentrum steuert Gehirnfunktionen höherer Ordnung, wie erhöhte Aufmerksamkeit, Konzentration und Entscheidungsfindung. Veränderungen im Gehirn zeigen, dass bei Meditation die Funktionen höherer Ordnung stärker werden, während die Gehirnaktivitäten niedrigerer Ordnung abnehmen. Mit anderen Worten: Sie haben die Möglichkeit, Ihr Gehirn zu trainieren.

Erfahrene Meditierende im Alter von 40-50 Jahren haben die gleiche Menge an grauer Substanz wie ein durchschnittlich 20-30-Jähriger. In dieser Altersgruppe blieb die Gesundheit des frontalen Kortex erhalten.

Hirnstrukturen und Neuroplastizität

MBSR kann durch Neuroplastizität materielle Veränderungen im Gehirn hervorrufen. Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich während der gesamten Lebensspanne kontinuierlich zu reorganisieren und zu verändern. Verhalten und Lebensstil sind wichtige Einflussfaktoren auf das Gehirn. Ihr Leben bringt Ihr Gehirn dazu, ständig neue neuronale Verbindungen zu schaffen. Das liegt daran, dass Neuronen (Nervenzellen) sich aktiv anpassen, um Veränderungen in Ihrer Umgebung zu kompensieren.

Gehirnzellen durchlaufen einen Prozess der Reorganisation und passen sich dynamisch an, indem sie neue Bahnen im Gehirn schaffen. Wie Sie denken und fühlen, verändert diese neuronalen Strukturen. Indem Sie den „Muskel“ der gedanklichen Aufmerksamkeit immer wieder beugen, verändern Sie effektiv den "Körperbau" oder die Form Ihres Gehirns.

Studien haben gezeigt, dass es nur acht Wochen dauert, um die Form Ihres Gehirns zu verändern, einschließlich einer Zunahme des Volumens der grauen Substanz. Die Graue Substanz befindet sich in Ihrem Zentralnervensystem und macht den größten Teil der neuronalen Zellkörper Ihres Gehirns aus. Diese Art von Gewebe ist besonders wichtig in Bereichen, die für Muskelkontrolle, Sinneswahrnehmung, Emotionen, Gedächtnis, Entscheidungsfindung und Selbstkontrolle zuständig sind.

Durch Neuroplastizität können Sie die Verbindungen zwischen Neuronen herstellen und verbessern, wenn Sie die Dichte der grauen Substanz verändern. Sie können Ihr Gehirn in nur wenigen Minuten pro Tag effektiv verändern.

Quellen:

Der Fingerabdruck Gottes: Wie religiöse und spirituelle Erfahrungen unser Gehirn verändern, A. Newberg , M. Waldman , 2012

Brain Weaver: Creating the Fabric for a Healthy Mind through Integrative Medicine, A. Newberg, D.Monti, 2021

Altered Traits: Science Reveals How Meditation Changes Your Mind, Brain, and Body, D. Goleman, R. Davidson, 2018

Cortright, Brant. Das bessere Gehirn: Wie Sie lebenslang die Bildung neuer Nervenzellen anregen. Die 4 Schlüssel der Neurogenese: Ernährung, Bewegung, Beziehung und Bewusstheit

Gesund durch Meditation, Jon Kabat Zinn, 2019

 

Übersetzung und Selektion: Stefan Bogdanov